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Buch - Konrad Oberhuber

Konrad Oberhuber
Durchlichtete Innenräume
Die Linolschnitte Robert Keils


Robert Keil gehört zu jener Generation von Künstlern, die nach 1945 ihre künstlerische Inspiration von der Ecole de Paris erhielten.... Für Keil, der sich zur damaligen Erneuerung des katholischen Glaubens in Frankreich durch Autoren wie Bernanos, Claudel und besonders dem Theologen Teilhard de Chardin hingezogen fühlte, begrüßte diese Möglichkeit, Themen, in denen sich seine Verehrung für die Natur und ihren Schöpfer ausdrücken ließ, in eine konkrete Formensprache zu fassen.... Die Linolschnitte, die er zwischen 1963 und 1968 schuf, sind ein Höhepunkt in dieser Entwicklung. Die Möglichkeit aus dem Dunkel ins Helle zu arbeiten und weiße Linien vor schwarzem Grund erscheinen zu lassen, wurde für Keil eine wichtige Voraussetzung seiner Kunst.... Keil geht weder automatisch noch gestisch vor, sondern zieht seine Linien nach klaren Vorstellungen, die seiner Formenphantasie entspringen. Gerundete Linien sind das Grundelement von Keils graphischer Kunst... Auch eliminiert Keil in seinem graphischen Werk immer mehr alle flächigen Elemente, die es im Anfang noch gibt, bis seine Strukturen fast nur noch aus weißen oder schwarzen Linien bestehen und alles Flächenhafte nur noch zu leuchtenden Gründen wird. Der weiße Grund, der sich innerhalb des Schwarzen bildet, erhält allerdings eine ausgeprägte Lichtgestalt, die dann sehr viel Tiefe hat und so alles Flächige verliert. Keils wirbelnde Linien überschneiden und kreuzen sich oft so, daß dadurch räumliche Strukturen und Gitterwerke entstehen, doch führt er sie auch immer wieder in verschnörkelte, labyrinthische Flächengestalten zurück, die nur eine seichte Reliefform entstehen lassen und einen Zutritt in den Raum verwehren. Beide Vorgangsweisen können in ein und demselben Blatt nebeneinander existieren, so daß räumliche Formen wieder in die Fläche zurückgeführt werden. Immer aber bleibt der Vordergrund gewahrt und vergittert, und eine realistische räumliche Tiefe entsteht nicht. Alles dies führt in Keil zu einem Gefühl des Abgehobenseins von der Erde hinein in reine Spannungen aus dynamischen oder trägen Kurven und Linien, die eine mitziehen oder -reißen, und in die Gegensätze von leuchtendem, strahlendem Licht und tiefem Dunkel. Man fühlt sich hineingezogen in eine in sich abgeschlossene, komplette Formenwelt, in der man sich mystisch verlieren kann.
Der erste große Zyklus stammt von 1965: "Genesis". Er besteht aus einem Deckblatt, einem Titelblatt und den sieben Schöpfungstagen. In diesen Blättern verwendet Keil noch viele figürliche Motive, aber seine Form der linearen Abstraktion ist weitgehend ausgebildet. Das Chaos am ersten Schöpfungstag ist eine labyrinthische Flächenwelt von unterschiedlicher Dichte, in welche die schwebende Lichtgestalt des abstrakt gegebenen Schöpfers hineinwirkt. Mit dem Erscheinen der Leuchten am Firmament beginnt sich das Chaos zu verdichten und erhält das Licht konkrete Strahlkraft. Schließlich rundet sich die Erde unter dem Firmament. Haben die ersten drei Schöpfungstage kosmische Dimension, sehen wir die nächsten drei als Ausschnitte aus dem Leben der Erde. Pflanzen, Tiere und schließlich die Menschen erscheinen in flächigen Werken, in denen der beschränkte irdische Raum durch starke vertikale und horizontale Elemente dem gerundeten, leichten kosmischen Raum der ersten Schöpfungstage gegenübergestellt wird. Der letzte Tag zeigt Erde und Kosmos in Harmonie durch eine nach oben schwebende Lichtgestalt, die zwischen oben und unten vermittelt.

Nun wagt sich Keil 1970 an zwei weitere Themen. Das erst ist die Illustration eines der großen Gedichtwerke des französischen 19. Jahrhunderts: Baudelaires Fleur du Mal. Der mystische Weg zu Gott, der darin geschildert wird, zieht Keil an. Im Anfang steht ein Traum vom Paradies als eine Blume, die aus dem Dunkel aufscheint. Die klare Gestalt geht im Liniengewirr des zweiten Blattes verloren, in dem Keil Baudelaire folgend, die Qual der Leben verschlingenden Zeit darstellt. Das dritte Blatt zeigt ein Wuchern von aus dem Dunkel gebundenen Pflanzenwesen, die unter Gottes führender Hand nach oben zu streben suchen. Sie führen aber im nächsten Blatt in ein wildes Wirrsal von schwingenden Linien, die jeden festen Grund, vermissen lassen und in welche der von Angst und Schwindel erfaßte Geist, im nächsten Blatt und Gedicht dargestellt, mit Mühe Ordnung zu bringen sucht. Langsam löst sich der Betrachter vom Grund, und im sechsten Blatt ruft der Künstler mit Baudelaire die Seelen der Verstorbenen und Gott selbst um Hilfe und Gnade an. Das Liniengewirr gewinnt leuchtende, sternenhafte Zentren. Nun sondert sich im siebten Blatt Licht und Finsternis. Vor dem Erscheinen sonnenhafter Gebilde, die den Schöpfer verkörpern, sinken die dunklen, chaotischen Schatten zurück. In den letzten beiden Blättern, Nr. VIII und IX, mit Worten, in denen Baudelaire von seiner Bedrängnis durch die Sorge um das Heil spricht und Gottes Mitleid anruft und schließlich einen Schöpfer besingt, der auch um die Ungeheuer und ihre Berechtigung weiß, mischt sich Hell und Dunkel in einer für Keils Linolschnitte ungewöhnlich malerischen Dichte. Besonders das letzte Blatt wirkt dadurch farbig und erhält damit eine festigende Kraft, die Stärke ausstrahlt.
Im Zweiten Zyklus, Ordnung, desselben Jahres versucht Keil noch einmal in völlig abstrakten Formen den Weg von einem labyrinthischen Chaos, in dem Dunkel und Eckiges überwiegen, zu einem dichten pulsierenden neuen Ganzen zugehen, in dem drei sinnenhafte Gebilde im Zentrum pulsieren und nach verschiedenen Richtungen verschiedenartige Formen ausstrahlen und wo Hell und Dunkel eng gemischt sind. Dazwischen gibt es sechs Stufen, von denen die erste eine Art Polarisierung von flammendem licht und harten Dunkelformen bringt, die zweite, in Blatt III, ein gitterhaftes Gegenüber von dunklen und hellen Linien, Blatt IV eine Verschmelzung dieser Gitter, die dynamisch in Bewegung kommen, Blatt V eine Aufhellung und Befreiung, Blatt VI eine neue Teilung in zwei Pole, aber nun in reinen Lichtgestalten, und schließlich in Blatt VII ein kosmischer Wirbel verschiedenartiger Steinkörper innerhalb der zwei größeren Gebilde. Blatt VIII schließt den Zyklus schließlich mit der neuen Verdichtung, die wir schon oben beschrieben haben.
Keils letzter Zyklus, Freude, besteht aus zehn Linolschnitten, die zwischen 1968 und 1969 entstanden und eigene Gedichte des Malers illustrieren, In diesem einheitlichsten Zyklus Keils geht es ausschließlich um die Auseinandersetzung zwischen einem zentralen Lichtgebilde und den Linien, die es umgeben, die einmal hell einmal dunkel sein können, je nachdem, vor welchem Grund sie sich befinden, und die doch als kohärente Bewegungsströme wirken. Freude beginnt mit einer ausstrahlenden Flammenbewegung inmitten des Dunkels, sie formiert sich in Blatt II zu einer fast menschenhaften Lichtgestalt, die mit einem wirren Netz von Dunkelheit zu kämpfen hat - "Der Wirrnis Plage..."
Im dritten Blatt erhebt sich die Lichtgestalt zur Aufrechten und bringt so Ordnung in das Liniengebilde, das es im vierten Blatt in wirbelnd dynamische Bewegung setzt. Durch ein weiteres Einströmen von Aufrichtekraft ordnen sich die Formen komplexer, und Licht und Dunkel beginnen sich zu mischen: "Nicht schauend und auch / nicht blind mehr.-/Dem Wartenden ergeben." Nun mischt sich Helles und Dunkles wirklich zu einem dichten Gebilde, das sich in Blatt sieben nun so ordnet, daß Dunkelströme und Lichtströme sich miteinander zu einer wirbelnden Einheit verflechten: "Den unentwirrbaren Stunden / vom Morgen bis zur späten Nacht." In den nächsten Blättern formiert sich nun die Helligkeit zu klaren organhaften Formen, um die die dunklen Linien kreisen und so eine kosmisch wirkende Ordnung ausstrahlen: "Du bist der Schlüssel zu den neuen Räumen, / Der Funke unbekannten Schenkens."
Nach solchen durchlichteten Innenräumen, in die er sich auflösend ergeben konnte, hat sich Robert Keil offenbar gesehnt.